Sehnsucht nach Grün

Sehnsucht nach Grün

Visionäre Planer geben dem zivilisatorischen Prozess eine neue Wendung. Mit der Rückkehr des Grüns in die Städte soll dem Klimawandel und einer zunehmend lebensfeindlichen Umwelt entgegen gewirkt werden. Als Katalysator dieser Entwicklung war wohl zuerst die Erfahrung der Lebensfeindlichkeit zwingend notwendig: Wissenschaftler wie Roger Revelle beschreiben den Treibhauseffekt seit den 1950er Jahren und sagen den Klimakollaps vorher. Die Time vom 28. Mai 1956 berichtet bereits über Revelles Forschungsarbeit. Die Katastrophe kommt mit Ankündigung. Jetzt können wir sie fühlen: Überhitzte Städte ohne Grün lassen erahnen, wie sich das Leben in den Zeiten des Klimawandels anfühlen wird, wenn wir nicht massiv gegensteuern. Über diesen Zweck kehrt das Grün also zurück, nachdem die Zivilisation es bekämpft und gebändigt hat. Das Grün erobert jetzt als hilfreiches und lebenserhaltendes Grün den Lebensbereich der Menschen zurück. Es soll abkühlen helfen, mittels Photosynthese Kohlenstoffdioxid binden und Wasser verdunsten, Feinstaub aufnehmen und zugleich als Nahrung für Insekten dem Artensterben entgegenwirken.

Visionäre Stadtplanung, Berlin-Kreuzberg: Vertikale Fassaden-Begrünung verbessert das Wohnklima und das Stadtklima, fördert die Artenvielfalt und lindert die Auswirkungen des Klimawandels in der Stadt.
Verschiedene Wege, der Sehnsucht nach Grün Ausdruck zu geben: (links) eine mit floralen Motiven bemalte Fassade und (rechts) eine dem Grün, nämlich dem Efeu, überlassene Fassade, Berlin-Kreuzberg

Bei der vertikalen Begrünung von Fassaden verhindern Pflanzen die direkte Sonneneinstrahlung. Dadurch kann die Fassade weniger Wärmeenergie speichern und das sorgt für ein angenehmes Wohnklima bei Hitzegraden. Aber auch die Idee der regionalen Wirtschaftskreisläufe steckt hinter dem neuerlichen Ergrünen der Städte, mit Gemüse vom Hochhausdach oder aus vertikalen Gemüse-gärten und Gemeinschaftsbeeten auf ehemaligen Brachen, Lebensmittel, die in den Städten wachsen und nicht länger in der urbanen Peripherie. Die Idee der Stadtfarm sprießt fast überall aus dem Boden. Sogar Honig wird inzwischen in Städten geerntet, die durch insektenfreundliche Bepflanzung die Voraussetzung dafür geschaffen haben.

Vergessenes Grün: dem Wildwuchs überlassene Stadt-Brache in Berlin-Kreuzberg

Es lebt in den Menschen seit je her auch eine große Sehnsucht nach dem Grün, die sich vom floralen Wandbild zum Balkonkasten und der Zimmerpflanze über den Schreber- und Gemeinschaftsgarten oder das Guerilla Gärtnern mannigfach Bahn bricht. Die Wut über das Grau der Städte findet ihr Ventil in Aktionen wie den Samenbomben der Guerilla Gärtner, die damit triste Orte und städtische Brachen mit Blumensamen attackieren, oder der Eroberung der städtischen Grünanlagen durch das Urban Gardening, das zweckfreien Rasen mit Hochbeeten bestückt und durch Gemüsebeete verdrängt. Dabei wird jede noch so kleine Anbaufläche genutzt, um der Lust auf selbst gezogene Pflanzen nachzugehen, als breche sich eine im Menschen tief im Inneren angelegte Urgewalt ihre Bahn.

Auch diese betagte Opuntie am Fenster eines Londoner Musik-Clubs zeugt von der starken Verbindung der Menschen zur Flora

Die Rückkehr ins Grüne kann der Menschheit also gelingen, denn mit dem Verschwinden des Grüns in den Städten und in den vom Klimawandel geschleiften Landschaften, wächst auch die Sehnsucht der Menschen nach dem Grün. Es ist eine starke Sehnsucht, denn das Grün fühlt sich wie Heimat an. Die Rückkehr ins Grün ist emotionsgeladen, wie eine Rückkehr in die vor langer Zeit verlorene Heimat.

Grün. Farbe der Flora