Zivilisatorische Energie: Von der Genesis zur Apokalypse

Zivilisatorische Energie: Von der Genesis zur Apokalypse

Das Grün ist äußerst verwundbar. Das Wachstum oder Sterben der Pflanzen wird durch das Vorkommen von Wasser und Licht bestimmt. Alle Lebewesen sind darauf angewiesen, sich auf den Wechsel dieser natürlichen Grundlagen einzustellen und daraus Strategien für das Überleben abzuleiten. Das Verschwinden des Wassers führt uns die Bedeutung des Grüns vor Augen. Fehlt es, bleibt auch das Grün aus, dann weicht mit ihm alles Leben zurück oder überlebt nur in extremen Nischen. Die Kälte an den Polen oder die Winter der Nord- und Südhalbkugel lassen Wasser zu Eis erstarren, die Hitze des Sommers der Nord- und Südhalbkugel oder des Äquators lassen das Wasser versiegen, verdunsten und in der Luft verschwinden. Auch die Dunkelheit der Nacht verschlingt alles Grün, wenn auch nur für Stunden. Doch gemahnt uns die Nacht, dass die Verdunklung des Himmels, der Mangel an Licht, sei es durch den Ascheregen nach einem Vulkanausbruch oder auch nur eine Sonnenfinsternis, den Prozess der Photosynthese stoppt und damit von Grund auf lebensfeindlich ist.

Grünstreifen, Saigon, Vietnam

Am Anfang war das Licht. Alles was lebt nährt sich vom Licht und mit Hilfe des Wassers, allein durch die Fotosynthese der Pflanzen. Wir modernen Menschen können das Verschwinden des Grünen mit Satelliten und dem Blick aus dem Weltall beobachten und unsere Schlüsse daraus ziehen. Das unvorhersehbare und unerwartete Verschwinden des Grüns in der Natur ist ein apokalyptischer Vorgang und trifft vor allem die menschliche Zivilisation vernichtend. Verschwindet das Grün aus unserer Umgebung und aus der Landschaft, taucht der Mangel mit Macht in unser Bewusstsein ein.

Grünstreifen, Flughafen Zürich

Wo es Jahreszeiten als verlässlich wiederkehrende Zyklen gibt, leben die Menschen seit je her mit dem Aufkeimen und Vergehen der Pflanzen. Durch die Verlässlichkeit der Natur kann der Mensch sein Leben und seine Kultur um das Grün herum sicher und gut gestalten. Das Sammeln von Pflanzen als Nahrungsquelle ist planbar, solange die Jahreszeiten und ihr Wetter vorhersagbar bleiben. Generationen von Menschen haben sich durch Wetter- und Naturbeobachtungen dieses Wissen erarbeitet. Pflanzenkenntnisse und das Wissen um klimatische Bedingungen waren nötig, um sich vor etwa 13.000 Jahren vom nomadischen Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern entwickeln zu können. Der Ackerbauer weiß, wann der richtige Zeitpunkt für die Aussaat ist und wann die Ernte eingefahren werden muss. In der Moderne entsteht der Eindruck, dass der Bauer ein Feld erfolgreich bewirtschaftet, weil er die Natur zu beherrschen weiß. In Wahrheit hat er aber von Generationen von Bauern das Wissen geerbt, das durch Beobachtung und Erkenntnis gewonnen wurde, wie man sich an die natürlichen Gegebenheiten anpassen kann, um einen Ertrag zu erwirtschaften. Der Bauer muss dem grünen Kreislauf von Werden und Vergehen folgen, zwangsläufig und zu seinem Eigennutzen.

Bauerngärtchen und Grünland, Schwarzwald

Eine Beobachtung ist dabei kennzeichnend für das Verhältnis des Mensch zur Flora: Ein Bauer, der sein Feld bestellt, pflügt es zuerst um, löscht dadurch das natürlich gewachsene Grün gänzlich aus, um die sodann aufkeimende Feldfrucht weitestgehend kultivieren und also beherrschen zu können. Doch auch dieser Eindruck des Herrschens über die Feldfrucht ist ein Trugschluss. Was passiert, wenn der jahreszeitlich zu erwartende Niederschlag ausbleibt und das Unvorhersehbare und Unerwartete eintritt? Die Feldfrucht ist eine Pflanze, die sich der Mensch nach seinen Bedürfnissen gezüchtet und abhängig gemacht hat.

Der Mensch hat seit seiner Entwicklung vom Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern und dem arbeitsteiligen zeitgenössischen Menschen eine zivilisatorische Energie entfesselt, die das Grün zu bändigen, zu kontrollieren und zu überwinden trachtet, ihm eine untergeordnete, ja sklavische und zweckmäßige Rolle zuweist, statt alles grüne Leben als Urgrund des eigenen Lebens zu begreifen.

Auch die liebevolle Hege und Pflege von Pflanzen ist ein Ausdruck des menschlichen Kontrolltriebs. Der eigentliche Regent des Lebens ist nicht der Mensch, sondern die Flora.

Pflanzen zum Ornament gebändigt, Bandar Seri Begawan, Brunei

Aus der ursprünglichen Erkenntnis durch Naturbeobachtung wurde beim Menschen der Moderne der Impuls die Natur und Pflanzenwelt zu kontrollieren, sie neu zu erschaffen oder zu zerstören. Ein Jäger und Sammler lebt als Nutznießer noch eng verbunden mit dem Grün. Als Lebewesen kann sich der Mensch nur entlang der Zeit in die Zukunft weiterentwickeln, das bedeutet nämlich stets nur linear und vorwärtsgerichtet. Niemand kann in seine Vergangenheit zurückkehren, geschweige denn in eine Zeit, in der die Menschheit sich noch nicht so weit von ihren Ursprüngen weg entwickelt hatte. Wir können es auch nicht den Tieren gleichtun, die ihren Platz in der Schöpfung einnehmen, ohne von Zweifeln oder dem Streben nach mehr geplagt zu werden. Tiere sind integrale Wesen. Wir Menschen wurden aus diesem Paradies vertrieben, um das sehr anschauliche Bild aus der Erzählung des Alten Testaments aufzugreifen. Die Menschheit hat keinen angestammten Platz in der Schöpfung. Sie hat die Ebene des Natürlichen verlassen und sich die Kultur erschaffen.

Weinanbau im Rebland, Baden Baden (links) und Palmen im Autohaus, Financial District, Manhattan (rechts)
Linden auf dem Münsterplatz, Freiburg (links) und Byrant Park, New York (rechts)

Auch Pflanzen hat der Mensch zu Kulturgewächsen gemacht, sich Sorten geschaffen, die ohne menschliches Zutun in der Natur nicht überlebensfähig wären. Im 21. Jahrhundert steht die Menschheit an einem Wendepunkt: Es gilt, sich den Platz in der Schöpfung zu erobern, neu zu gestalten und eine Haltung anzunehmen, die in Balance mit allem steht. Gelingt dieser Entwicklungsschritt nicht, droht unserer Gattung die Apokalypse. Wie konnte es so weit kommen?

Als gäbe es das Grün im Überfluss, hat sich der Mensch in seiner Zivilisation Orte geschaffen, an denen das Grün bereinigt, völlig abgeschafft oder ganz und gar beherrscht wird. Dieser zivilisatorische Prozess ist ein globales Phänomen. Selbst ein Lindenbaum auf dem Dorfplatz oder ein Versammlungsort im Regenwald sind Ausdruck dieser das Grün kontrollierenden Kraft. Die menschengemachten Betonwüsten der Großstädte sind die ausschweifendste Konsequenz, die pervertierte Form dieser zivilisatorischen Energie, einer Zivilisation, wie wir sie kennen, mit Hochhausschluchten und asphaltierten Straßenzügen. In Metropolen, die wie künstliche Wüsten sind, kann der Mensch nur überleben, weil er von der grüneren Peripherie versorgt wird. Die zehn größten Weltmetropolen wie Tokio, Delhi, Schanghai, São Paulo, Mexiko City, Dhaka, Kairo, Peking, Mumbai und Osaka sind, vergleichbar mit Eiswüsten und echten Wüsten, nämlich maximal lebensfeindliche Orte. Diese Orte haben eines gemeinsam: Das Grün wird zur Ausnahme.

Die Abschaffung und Bändigung des Grüns ist die eigentliche Ursünde. Aus Städten wird alles natürlich wachsende Grün verbannt. Wo es in den Städten noch Grün gibt, lebt es entweder gänzlich marginalisiert, vergessen und bestenfalls geduldet, als sogenanntes Unkraut im Straßengraben oder in der Mauerritze, weil es dort unbeachtet und übersehen wurde, oder aber maximal gebändigt, kultiviert und zur Schau gestellt, in Parks, Rabatten, in botanischen Gärten, auf Balkonen oder in Büros und Wohnzimmern. Wir holen die Natur in unsere Stuben und machen die Zimmerpflanzen auf Gedeih und Verderb von uns abhängig. Wir züchten Pflanzen, die in der Natur nicht überleben könnten. Wir kehren die eigentlichen Machtverhältnisse in unseren Wohnstuben im menschlich machbaren Mikro-Maßstab um.

Weidenbaum in der Stadtlandschaft um die Elbphilharmonie, Hamburg

Wir machen Pflanzen dabei auch zu Statussymbolen. Städtisches Grün wird von Experten geplant, bei Trockenheit künstlich bewässert und nicht eine einzige dieser Pflanzen würde ohne Zutun des Menschen an Ort und Stelle überhaupt vorkommen. Keine wäre überlebensfähig ohne die menschliche Fürsorge. Wir haben uns damit eine verkehrte Welt geschaffen.

Palmenallee zur Moschee, Bandar Seri Begawan, Brunei

Wenn das Grün in den Mega-Städten der Welt zur Ausnahme wird, kann es Menschen der kommenden Generationen dann überhaupt noch gelingen, es als Lebensgrundlage wahrzunehmen und wertzuschätzen? Verlieren wir das Wissen um die Grundlagen unserer Existenz? Sind wir der Natur inzwischen gänzlich entfremdet?

Grün. Farbe der Flora

Veröffentlicht von

EditionSZ

Aus dem Prozess des Verstehens wählt die Autorin Sibylle Zerr Bilder und Texte, und erschafft Unikate. Von der Idee über die Kreation bis zur Veröffentlichung, die Text- und Bild-Werke erscheinen im eigenen Verlag, der Edition Sibylle Zerr. ISBN Verlagsnummer 978-3-944792

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